„Enter a Messenger with two heads and a hand.“ (Shakespeare, Titus Andronicus, III.1)Grausamkeit lässt sich kulturgeschichtlich an Riten und Mythenerzählungen binden, die mit der Entstehung von Drama und Tragödie in Verbindung gebracht werden. Dabei bleibt die Frage, wie extreme Gewalt und ihre Resultate – zerfleischte Körper, abgehackte Gliedmaßen, herausgeschnittene Zungen und ähnlich alptraumhaftes Material – letztlich auf die Bühne gebracht und dort mit Sprache, Körpern und Requisiten dargestellt werden können, im technischen wie im ethisch-moralischen Sinne, ein zentrales Problem des Theaters von der Antike bis in die Gegenwart. Überlegungen zu einer ‚Dramatik der Grausamkeit‘ mögen daher aufschlussreich sein für Fragen des Politischen, des Anthropologischen, des Psychologischen und des Produktions- und Wirkungsästhetischen, die an das Drama gestellt werden können. Um diese Fragen und ihre Verschränkung soll es im Seminar gehen.
Auf dem Lektüreplan stehen fünf große ‚Dramen der Grausamkeit‘, die aus verschiedenen Zeiten und kulturellen Kontexten stammen, die aber durch geteilte Problemstellungen, Ästhetiken und intertextuelle Bezüge eng miteinander verbunden sind: Aischylos’ Trilogie Oresteia (458 v. Chr.), Shakespeares Titus Andronicus (1594), Heinrich von Kleists Penthesilea (1808), Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar (1984/85) und Sarah Kanes Blasted(1995). Begleitend zu den Dramen beschäftigen wir uns (auszugsweise) mit theatertheoretischen und philosophischen Überlegungen zur Grausamkeit u.a. von Friedrich Nietzsche, Antonin Artaud, Georges Bataille und Clément Rosset.
Ausgehend von den gemeinsamen Lektüren ließen sich u.a. folgende Aspekte diskutieren: das Verhältnis von Grausamkeit und Recht und Gesetz, das u.a. die Orestie verhandelt; das Verhältnis von häuslicher, sexueller und politischer Gewalt, von dem Shakespeare, Heiner Müller und Sarah Kane besonders eindrucksvoll erzählen; das Verhältnis von sprachlicher und körperlicher Gewalt, dessen Endpunkte Kleist seine Penthesilea erfahren lässt; gemeinschaftsstiftende und -zersetzende Funktionen von Gewalt; die dramatische Darstellung konkreter politischer Konflikte oder Kriege; die Funktion und Wirkung von dramatisierten Affekten wie Zorn, Wut, Rachelust, aber auch Angst, Schuld, Scham und Versöhnlichkeit; Überlegungen zur kulturellen Semantisierung des menschlichen Körpers und seiner Teile. Verbunden sind diese Aspekte mit Fragen dramatischer Darstellbarkeit, zum Verhältnis von Drama und Theater, zu Konzepten des Tragischen, Komischen und Tragikomischen.
Der Begriff der Grausamkeit dient dabei dazu, die verschiedenen Aspekte und Fragestellungen zu bündeln. Er ist nicht nur im Sinne extremer körperlicher Gewalt zu verstehen, sondern lässt sich hin zu grundlegenderen Überlegungen erweitern. Das lateinische crudelis (grausam) leitet sich von crudus (roh, unverdaut, unverdaulich) her. Der Philosoph Clément Rosset beschreibt die ‚Grausamkeit des Realen‘ in diesem Sinne als „die einzigartige und infolgedessen unabänderliche und unwiderrufliche Eigenart der Wirklichkeit [...], die es unmöglich macht, sich von ihr fernzuhalten [...]; das gehäutete und blutende Fleisch: d.h. die Sache selbst, frei von allen Hüllen und sonstigen Beiläufigkeiten, in diesem Fall der Haut, und somit reduziert auf ihre einzigartige, ebenso blutige wie unverdauliche Wirklichkeit.“ (Rosset, Das Prinzip Grausamkeit, 1988)
Und auch Antonin Artauds ‚Theater der Grausamkeit‘ meint „zunächst einmal Theater, das für mich selbst schwierig und grausam ist. Und auf der Ebene der Vorführung handelt es sich nicht um jene Grausamkeit, die wir uns gegenseitig antun können, indem wir einander zerstückeln, indem wir unsere persönlichen Anatomien mit der Säge bearbeiten oder, wie die assyrischen Herrscher, indem wir uns mit der Post Säcke voll Menschenohren, voll säuberlich abgetrennter Nasen und Nasenflügel zuschicken, sondern um die sehr viel schrecklichere und notwendigere Grausamkeit, welche die Dinge uns gegenüber üben können.“ (Artaud, Schluss mit den Meisterwerken, 1936)
Begleitend zum Seminar wird mindestens eine Theaterexkursion (voraussichtlich nach Frankfurt zu Michael Thalheimers blutiger Penthesilea) angeboten; Inszenierungen anderer Stücke können wir uns außerdem als Filmaufzeichnungen anschauen.